Wie der Klimawandel Menschen mit Behinderungen am stärksten betrifft ?
Die weltweit spürbare Klimakrise führt zu immer mehr Hitzewellen, Dürren, stärkeren Stürmen und Überschwemmungen, von denen 2018 mehr als 35 Millionen Menschen betroffen waren und zwei Millionen zur Flucht gezwungen wurden. Diese Naturkatastrophen führen häufig zu sozialen Katastrophen, wie der Zerstörung von Ackerland und Flüchtlingsbewegungen. Mehr als eine Milliarde Menschen mit Behinderungen auf der ganzen Welt leiden noch stärker unter diesen Folgen, da es bei Hilfsmaßnahmen oft an Inklusionsmaßnahmen mangelt. Diese Zielgruppe und die Organisationen von Menschen mit Behinderungen werden nicht ausreichend in die Katastrophenprävention einbezogen.
Der Klimawandel trifft vor allem die Schwächsten: Menschen mit Behinderungen und ihre Familien können der Gefahr nicht so leicht entkommen, weil sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Sie sind auch stärker von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen, vor allem in den Ländern des globalen Südens. Hinzu kommt, dass Informationen über die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf ihr unmittelbares Umfeld oft nicht zugänglich sind. Infolgedessen haben sie viel weniger Möglichkeiten, sich auf drohende Katastrophen vorzubereiten, sich finanziell abzusichern oder sie zu vermeiden, selbst wenn sie informiert wären. Dies führt zu einer höheren Sterblichkeitsrate, die eigentlich vermeidbar wäre.
Obwohl behinderte Menschen von den Folgen des Klimawandels in besonderem Maße betroffen sind, werden sie von der Klimapolitik systematisch ignoriert. Dabei sollten sie besser geschützt und direkter einbezogen werden. Zugängliche Informationen, direkte Kommunikation und mehr Forschung könnten die Situation verbessern.
Es gibt mehrere Gründe, warum behinderte Menschen vom Klimawandel besonders betroffen sind. In Notsituationen, die aufgrund extremer Wetterereignisse in Zukunft häufiger auftreten können, benötigen Rettungskräfte oft spezielle Kenntnisse oder technische Hilfsmittel, um Menschen mit Behinderungen zu evakuieren. Diese besonderen Anforderungen werden jedoch in Notfallplänen und Evakuierungskonzepten oft nicht berücksichtigt. Im Extremfall kann dies zu Tragödien führen wie beim Hochwasser im Ahrtal, bei dem zwölf behinderte Menschen in einer betreuten Wohneinrichtung ertranken.
Je nach Art der Behinderung leiden sie auch besonders unter Hitzewellen, Wassermangel und anderen, durch den Klimawandel verschärften Gesundheitsrisiken, wie beispielsweise allergischem Asthma, aufgrund des erhöhten Pollenfluges. Darüber hinaus haben behinderte Menschen aufgrund struktureller Diskriminierung oft weniger Ressourcen, um mit den potenziell negativen Folgen des Klimawandels umzugehen – ein Umzug in eine andere Umgebung würde für sie beispielsweise größere finanzielle und organisatorische Hindernisse bedeuten.
Behinderte Menschen sind vom Klimawandel besonders betroffen:
Katastrophen wie Hitze, Brände und Überschwemmungen treffen sie härter, da ihre Reaktionsfähigkeit stärker eingeschränkt ist. In Sinzig ertranken zwölf Bewohner*innen eines betreuten Wohnheims im Hochwasser, weil sie nicht rechtzeitig evakuiert worden waren. In den Vereinigten Staaten sind Menschen gestorben, weil Feuer und Überschwemmungen einen Stromausfall verursachten – und damit lebenswichtige Atemgeräte oder Klimaanlagen nicht mehr funktionieren konnten. Menschen mit Herzproblemen, Lungenkrankheiten, Diabetes oder psychischen Problemen sind bei einem Temperaturanstieg einem größeren Todesrisiko ausgesetzt. Die Auswirkungen von Naturkatastrophen auf behinderte Menschen lassen sich in den folgenden drei Phasen zusammenfassen:
1) Vor der Katastrophe: keine Warnsysteme oder zugängliche Berichte, so dass behinderte Menschen nicht über die Situation informiert sind. Während des Hurrikans Katrina zum Beispiel war die Gebärdensprachdolmetschung im Fernsehen nicht deutlich sichtbar und daher unverständlich.
2) Während der Katastrophe: Evakuierung und barrierefreie Unterkünfte sind oft nicht vorhanden. In den Notunterkünften während des Hurrikans Katrina gab es keine barrierefreien Toiletten oder Betten.
3) Nach der Katastrophe: Schwieriger Zugang zu neuen Unterkünften, Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung. Nach dem Hurrikan Katrina verfügten viele Familien mit behinderten Kindern nicht über wichtige Unterlagen über ihre Behinderung, was ihnen den Zugang zu Entschädigungen für Bildungsnachteile erschwerte, da sie keine Unterstützung mehr erhielten.
Daher ist es besonders wichtig, den Zugang zu Bildung für Menschen mit Behinderungen weltweit zu verbessern, um sie besser auf Naturkatastrophen vorzubereiten. Dies ist vor allem für behinderte Mädchen ein großes Problem, da sie in einigen Ländern weniger Zugang zur Grundbildung haben, als behinderte Jungen. Sie wissen nicht, was vor sich geht, und können daher nicht angemessen reagieren, wenn eine Naturkatastrophe eintritt.
Der Welt fehlt es an Inklusion im Klimaschutz:
Eigentlich sind alle Staaten verpflichtet, die Menschenrechte zu schützen und Menschen mit Behinderungen in ihrer Politik zu berücksichtigen. Eine wissenschaftliche Studie verglich auf dieser Grundlage die nationalen Klimaschutzbeiträge (NDCs). Die Analyse zeigt, dass nur 37 der 192 NDCs Menschen mit Behinderungen im Zusammenhang mit der Anpassung an die Folgen des Klimawandels erwähnen und 14 von ihnen konkrete Maßnahmen nennen. Menschen mit Behinderungen werden von der globalen Politik „systematisch ignoriert“, so das Fazit der Autor*innen.
Deutschland steht im internationalen Vergleich erst am Anfang der Debatte um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Bereich des Klimawandels. Auch im internationalen Vergleich steht Deutschland als wohlhabende Industrienation nicht gut da: Behinderte Menschen werden in den deutschen NDCs nicht einmal erwähnt, anders als beispielsweise in den Plänen von Simbabwe oder Panama. Wie könnte diese Situation verbessert werden?
1) Informationen zu Klimawandel und Katastrophenschutz in einfacher Sprache leicht zugänglich machen – insbesondere für Menschen mit Behinderungen und Betroffene.
Der Zugang zu Bildung und Information ist nur eine Voraussetzung für politische und gesellschaftliche Teilhabe. Menschen mit Behinderungen sollten stärker in das Thema Klimagerechtigkeit eingebunden werden – sinnvoll wären z.B. feste Plätze für Menschen mit Behinderungen in politischen Gremien, die über neue Maßnahmen entscheiden oder die Gründung einer Organisation, die politische Lobbyarbeit betreibt. Dies würde dazu beitragen, das Thema im Mainstream zu verankern, so dass behinderte Menschen bei zukünftigen politischen Maßnahmen berücksichtigt werden. Auch ein internationaler Austausch wäre sinnvoll, insbesondere mit stärker betroffenen behinderten Menschen im globalen Süden oder in indigenen Gemeinschaften.
2) Es muss mehr über die spezifischen Bedürfnisse geforscht werden.
Es ist unmöglich, Maßnahmen für alle behinderten Menschen zu planen, da es eine Vielzahl unterschiedlicher Behinderungen gibt. Wir brauchen mehr Wissen darüber, wie sich die Folgen des Klimawandels auf verschiedene Arten von Behinderungen auswirken können, wie extreme Wetterereignisse Menschen mit verschiedenen Behinderungen treffen und wo sie besonders gefährdet sind.
3) Behinderte Menschen haben auch im Wissenschaftssystem eine schwache Lobby: Sie werden in der Regel nicht an der Erstellung von Plänen und Entscheidungen beteiligt. Das muss sich ändern: Sie sollten als Expert*innen einbezogen werden. Vor allem lokale Organisationen und Interessenverbände sind sehr gut darin, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder*innen zu erkennen und zu bündeln. Um dies aber in eine wirksame Politik einzubinden, bedarf es einer guten Koordination bei der Gestaltung neuer Maßnahmen zum Klimaschutz, damit sie die Diskriminierung behinderter Menschen im Alltag verringern und nicht verstärken. Nur so kann eine Diskriminierung vermieden werden, wenn die Maßnahmen von nicht behinderten Menschen geplant werden. Andernfalls können die Maßnahmen ihnen das Leben plötzlich deutlich erschweren – so war zum Beispiel das ausnahmslose Verbot von Plastikstrohhalmen für viele Betroffene ein großes Problem:
Seit Juli 2021 sind Strohhalme sowie Einweggeschirr und -besteck in der Europäischen Union verboten. Dieser gut gemeinte Aktivismus übersieht leider die Tatsache, dass viele behinderte Menschen auf diese Hilfsmittel angewiesen sind. Manche können auf Plastikstrohhalmen nicht verzichten.
Allerdings werden sie zum Beispiel schmerzhaft aus den Nasen von Meeresschildkröten entfernt, zersetzen sich langsam im Wasser und vergiften die Umwelt. Aber sie gehören auch zu den sogenannten Hilfsmitteln – so wie eine Brille, Krücken oder ein Rollstuhl. Ein Strohhalm ist kein Luxus, sondern ein Mittel, um Flüssigkeit aus einem Behälter in den Mund zu transportieren. Die derzeitigen Alternativen aus Metall, Papier oder Holz sind noch unpraktisch, weil sie sich nicht falten lassen, Allergien auslösen, nicht trocknen und oft hygienische Probleme bereiten. Bislang gibt es kaum Anzeichen dafür, dass diese Probleme gelöst werden, und behinderte Menschen werden entweder ignoriert oder ausgenutzt – eine Erfahrung, die nicht neu ist.
Einmal mehr zeigt sich, dass auch der Umweltschutz und der Kampf gegen den Klimawandel weit weniger inklusiv sind, als manche*r glauben möchte:
Natürlich müssen wir gegen den Plastikmüll kämpfen. Und wir sind sicher, dass es bald eine technische und ökologische Lösung für Ess- und Trinkhilfen geben wird. Aber bis dahin dürfen wir nicht vergessen, dass Essen ein Menschenrecht ist, das behinderten Menschen zunehmend vorenthalten wird: wenn sie keinen Kaffee ohne Strohhalm bestellen können oder wenn sie ihre Teller zu Hause nicht abwaschen können und auf Einweggeschirr zurückgreifen müssen. Ein echter Umweltschutz berücksichtigt viele Perspektiven, nicht nur die von Menschen ohne Behinderung.
Stattdessen sollten wir uns mit den großen Themen befassen: Die CO₂-Menge in der Luft, die durch Kohlestrom, benzinbetriebene Autos und Kreuzfahrtschiffe entsteht, ist wichtiger als Strohhalme und verpackte Lebensmittel zu thematisieren.
4) Nicht nur in der Wissenschaft gibt es eine Lücke im Bewusstsein, dass Klimagerechtigkeit auch ein Thema für Menschen mit Behinderungen ist.
In den großen Netzwerken der Klimabewegung, wie z.B. Fridays For Future, gibt es viel weniger behinderte Aktivist*innen, und oft fehlt es den Netzwerken an Wissen über Barrierefreiheit, um behinderte Menschen für eine Zusammenarbeit mit ihren Organisationen zu interessieren und zu erreichen. Es gibt nur wenige Netzwerke für behinderte Klimaaktivist*innen. Das Motto der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gilt daher auch für das Thema Klimagerechtigkeit: „Nichts über uns ohne uns“.
Leider gibt es in der Geschichte der Umweltbewegung nicht übermäßig viele Menschen mit Behinderung, die sich engagieren oder engagiert haben, was vor allem an der mangelnden Barrierefreiheit der Aktionsformen und Räumlichkeiten liegt. Um dies zu erreichen, brauchen wir mehr Aktivist*innen mit solchen Erfahrungen. Sie können die Perspektiven bereichern und auf ein grundsätzliches Problem in Deutschland hinweisen: Nichtbehinderten Menschen wird oft die Chance verwehrt, mit behinderten Menschen zusammen zu leben, zusammenzuarbeiten und gemeinsam politisch zu kämpfen. Es liegt auch an behinderten Menschen, sich stärker in der Umweltbewegung zu engagieren und Freiräume und Barrierefreiheit einzufordern.
von Dr. Amina Tall, im Rahmen des AVOUALI-Projekts “Inklusion in Zeiten der Klimakrise“, initiiert von MeineWelt e.V. mit finanzieller Unterstützung der Aktion MENSCH